Vielleicht gehört es zu jedem wirklich genialen Wurf, dass er von seinen Zeitgenossen nicht gleich verstanden wird. Für Glühbirne und Grammophon beispielsweise gab es zum Zeitpunkt ihrer Erfindung keinerlei Bedarf. Auch der Renault Avantime löste zunächst Ratlosigkeit aus. Und zwar von seinem ersten öffentlichen Auftritt auf der Frankfurter IAA 1999 bis zu seinem Verkaufsstart 2001 und darüber hinaus. Was war der Renault Avantime? Van-Coupé, GT-Kombi, viersitziger Kleinbus oder die erste Oberklasse-Limousine mit zwei Türen? Allein mit diesen Fragen hatte Renault bereits ein Entwicklungsziel erreicht – nämlich ein einzigartiges Fahrzeug zu präsentierten, das in keine Schublade passt. Fakt ist, dass der Renault Avantime auf seine Weise so viel Prestige, Innovation und Individualität in sich vereinte wie kaum ein anderes Fahrzeug vor oder nach ihm.
Technisch basierte der Avantime auf der Bodengruppe der dritten Espace-Generation. Auf diese großzügige Basis setzten die Kreativen um den Renault Design-Papst Patrick Le Quement eine dynamische Karosserie, bis zur Schulterlinie wuchtig und selbstbewusst, darüber jedoch mit einem geradezu filigranen „Glashaus“-Aufbau. Riesige Fensterflächen, grazile A- und B-Dachsäulen sowie ein großflächiges Panoramadach verhalfen dem Trendsetter zu einem lichtdurchfluteten Interieur.
Trotz der üppigen Ausmaße war der Avantime konsequent als Coupé gedacht und besaß folglich nur zwei Türen. Diese fielen jedoch besonders breit und ausladend – bzw. einladend aus. Clou der riesigen Portale: Beim Öffnen schwenkten sie über eine komplexe Kinematik auch etwas nach oben, sodass sie selbst in engen Parklücken einen großzügigen Einstieg freigaben. Auf Knopfdruck fuhren das Glasdach zurück- und die Seitenscheiben herunter und ließen den Sommer hinein.
Trotz seines revolutionären Konzepts setzte der Avantime eine gewisse Tradition fort: Schon mehrfach hatte Renault innovative Fahrzeuggattungen geschaffen, die weltweit neue Segmente begründeten. Und das nicht als abgehobenes Styling-Experiment, sondern immer orientiert an den realen Bedürfnissen der Autofahrer. Der Renault 16 etwa war die erste Familienlimousine mit Heckklappe, der Espace gilt als erster europäischer Van, der Twingo übertrug dessen One-Box-Design ins Kleinwagensegment, der Scénic wurde zum Begründer des bis heute andauernden Booms bei den Kompakt-Vans und der Kangoo stieg zum Pionier der City-Transporter auf.
Anders als diese Modellreihen geriet der Renault Avantime nicht zum Bestseller, dafür zum Trendsetter. Denn seine Frontpartie nahm die Grundzüge des kommenden Espace vorweg und seine Silhouette fand sich in der Oberklasse-Limousine Vel Satis wieder. Die ausgestellte Heckpartie mit ihrer massiven C-Säule, der Panoramascheibe und den scharfwinkligen Rückleuchten erlaubte bereits eine Vorschau auf den spektakulär gestalteten Mégane II.
Doch die Zeit war nicht reif für dieses revolutionäre Raumkonzept. Und zugegeben: Vielleicht war auch nicht jeder gebaute Avantime reif für seine Zeit. Denn das Traditionsunternehmen Matra – wo der Coupé-Van im Auftrag von Renault gebaut wurde – fiel immer wieder durch Qualitätsprobleme auf. Das wollte und konnte Renault nicht hinnehmen und entschied 2003, die Produktion des Avantime einzustellen. Insgesamt wurden 8.550 Exemplare dieses rollenden Kunstwerks gebaut, 1.114 davon fanden in Deutschland einen Liebhaber.
Das Magazin „Auto Bild klassik“ nannte den Exot gebliebenen Trendsetter „Die meistverkaufte Studie der Welt“ und kürte ihn unlängst zum „Klassiker von morgen“. Nett gemeint, aber nicht ganz korrekt. Denn dieses Automobil, das sich durch seine Einzigartigkeit jeder Einordnung entzog, war schon bei seinem Erscheinen vor zehn Jahren ein wahrer Klassiker der Automobilgeschichte.
(Stand 02/2011, Irrtümer vorbehalten)